Liyah  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 08.11.2008 18:07 Uhr
Thema: Gedanken zu "Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben" Antwort auf: Bücher und Lesestoff Thread part 2 von Michael K.
Als mein Vater mich mit diesem Buch sah meinte er soviel wie „Pff, immer diese Biographien. Wen interessiert denn wie der gelebt hat..“  Habe natürlich Einspruch erhoben, dass es sehr wohl interessante Biographien gäbe. Was an Marcel Reich-Ranicki so interessant ist, konnte ich dort noch nicht sagen, zumal mir fast garnichts über ihn bekannt war, außer natürlich, dass er Literaturkritiker war. Hatte das Buch nur auf Empfehlung gekauft. Wie sich herausstellt ist sein Leben ein außergewöhnliches gewesen, obwohl er doch das Schicksal Millionen geteilt hat, denn er war einer der wenigen, die überlebt haben um es zu erzählen.

Er wurde 1920 als Sohn jüdischer, deutsch-polnischer Eltern in Polen geboren. Als er 9 war ziehte seine Familie nach Berlin. Dort ging es ihm erstmal mehr oder weniger gut, auch noch als die Nazis an die Macht kamen. Er beschreibt seine Lehrer als fair und seine Mitschüler als „wohlerzogen“, seine jüdische Herkunft hat ihm bis dahin keine wirklichen Probleme bereitet. Doch mit 18 wurde er dann Hals über Kopf nach Polen abgeschoben. Was dort folgt kann man sich denken: Schwierigkeiten beim Fußfassen in der neuen alten Heimat, Überfall Deutschlands auf Polen, Deportation aller Juden ins Warschauer Ghetto und schließlich Abtransport ins Vernichtungslager Treblinka. Von seinen Eltern, Freunden, Arbeitskollegen und Bekannten konnte er nur sich selbst und seine Freundin (dann Frau) Tosia durch eine waghalsige Flucht aus dem Ghetto retten. Sie kamen dann bei einer armen polnischen Familie unter, wo sie hungernd und verängstigt bis zum Kriegsende ausharrten.

Natürlich kennt man all diese Dinge bereits aus anderen Quellen, jedoch wird hier eine ganz persönliche Geschichte erzählt. Viele Details und Einblicke, die man aus Dokumentationen und Spielfilmen eben nicht bekommt. Immer wieder wird einem klar, dass dies hier nicht Fiktion sondern das echte Leben ist, welches die Intensität ungemein erhöht (Ich weine sogut wie nie bei Büchern und Filmen, aber die Verabschiedung seiner Eltern am Bahnhof, wo ihnen allen klar war, dass das Ziel des Zuges nur das Gas sein kann, hat mich tief erschüttert). Dann kommt einem natürlich der Gedanke, dass in all den brenzligen Situationen ein einziges Zögern, eine einzige anders gefällte Entscheidung Ranickis ausgereicht hätte, sodass man dieses Buch nie in den Händen gehalten hätte. Das geht einem dann ganz nahe. Das führt dann zu dem Gedanken wie viele Bücher und was nicht alles man heute nicht hat, eben weil diesen Menschen das Leben geraubt wurde. Da wird man sich dann seiner Gegenwart bewusst und trotz der Erschütterung darüber rückt alles irgendwie doch wieder in eine weite Ferne, denn es ist letztendlich doch unbegreiflich, dass wir in der Welt leben wo einerseits Frieden, Freiheit und Wohlstand, aber andererseits auch so etwas möglich ist. Ich denke es gibt nichts was einem dies wirklich begreiflich machen kann, außer es selbst zu erleben. Ich hoffe jedoch inständig, dass Berichte wie der von Ranickis ausreichen, damit es kein Mensch mehr erleben möchte.

Außerdem hoffe ich für ihn jetzt mal, dass die restlichen ~200 Seiten, die ich noch vor mir habe, nicht mehr ganz so dramatisch sein werden.
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