Mschl  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 22.04.2021 16:27 Uhr
Thema: Archiveintrag, 20.04.2021 Antwort auf: Archiveintrag, 12.04.2021 von Sascha
Liebes Archiv,

vorgestern haben viele 420 zelebriert. War ich bisher dem Kiffen über sehr liberal eingestellt und auch nicht unerfahren, hat sich das in den letzten 2 Jahren drastisch gewandelt. In mir hat sich alles zusammen gezogen. Die Berichterstattung zu 420, auch in den seriösen Medien, war mit zu undifferenziert und verharmlosend.

Warum? Hier mal ein Text, den ich vor einigen Wochen verfasst hab und zu dem ich mir lange überlegt habe, ob ich ihn überhaupt irgendwo veröffentlichen soll. Aber jetzt muss das mal raus und ich weiß, dass das bei Dir gut aufgehoben ist.

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Hm, 19;19 Uhr.
„Eine Schnapszahl.“
Immer wenn die Uhrzeit eine Schnapszahl zeigt, muss ich daran denken, dass ich der Antichrist bin.
„Also ich freue mich, wenn ich eine Schnapszahl auf der Uhr sehe.“
"Ich hoffe, dass ich nicht der Antichrist bin und später in den Himmel komme.“
[Pause]
„Und, was gab es heute bei Dir zu essen?"
"Rinderbraten. War lecker."


Das ist ein Dialog, der Euch absurd erscheinen muss. Für mich gehört er leider zur täglichen Normalität und ist nur die Spitze eines Bergs voller Absurditäten, die ich vor zwei Jahren noch für völlig unmöglich gehalten hab.

Ich bin in den letzten Monaten Sozialarbeiter, Therapeut, Seelsorger und Suchtberater. Leider nicht hauptberuflich und schon gar nicht freiwillig. Denn ich bin gleichzeitig auch Vater.

Es ist schwer in Worte zu fassen, was die Doppeldiagnose „Drogensucht / substanzinduzierte Psychose“ bedeutet – für den Betroffenen, aber auch für die Angehörigen.

Es beginnt mit einem Rückzug aus dem sozialen Leben. Gedanken, die völlig realitätsfern sind, manifestieren sich zu einer eigenen Wahrheit. Der Betroffene fühlt sich verfolgt. Kleinste Alltagsbegebenheiten (ein Auto hält an und der Fahrer steigt nicht sofort aus, das Telefon klingelt zur falschen Zeit, in der Nacht geht das Außenlicht an, jemand schaut im falschen Moment „komisch“,..) werden in den Wahn eingewoben und als Beweise für dessen Wahrheit gedeutet. Die Menschen, denen man noch vertraut, werden angefleht, dass man ihnen doch glauben soll: man wird verfolgt! Da draußen steht jemand und möchte einen umbringen! Die „Anderen“ sind alle Teil der Verschwörung!

Als erfahrener Angehöriger weiß man: das ist ein psychotischer Schub. Man weiß auch, dass es jetzt nichts bringt, zu sagen, dass das alles nicht stimmt.
Reden muss man dennoch. Bestenfalls kann man durch eine mühsame Realitätsüberprüfung dem Betroffenen klar machen, dass es so, wie er es wahrnimmt, doch gar nicht sein kann. Dass er sich in seinen Aussagen selbst widerspricht.
Mit viel Überzeugungskraft kann man ihn dann hoffentlich überreden, in die Psychatrie zu gehen und sich Medikamente geben zu lassen. Im Krankenhaus muss man dann darum betteln, dass der Patient aufgenommen wird. Gegen seinen Willen geht das schon mal gar nicht und wenn muss auch ein Platz frei sein. Es sei denn, er stellt eine Gefahr für sich oder andere dar - dann muss er aufgenommen werden, aber in die Geschlossene. Das will man ja auch nicht.

Hat ihn das Krankenhaus dann aufgenommen weiß man: jetzt fängt es eigentlich erst an.

Ab jetzt zuckt man bei jedem Telefonklingeln zusammen:

- Ist es der Betroffene, der gerade völlig panisch ist, weil er sich von einem Mitpatienten oder den Ärzten bedroht fühlt, und er unbedingt von hier weg muss?

- Ist es das Krankenhaus, dass einem mitteilt, dass der Patient sich gerade selbst entlassen hat?

- Ist es der behandelnde Arzt, der den Patienten entlassen muss, weil er bei einem Freigang einen Rückfall hatte und Drogen konsumiert hat?

- Ist es die Nachricht, dass er sich selbst das Leben genommen hat?

Alles ist möglich und bis auf die letztgenannte Möglichkeit auch schon mehrfach vorgekommen. Aber auch auf diese, letzte, Möglichkeit muss man gefasst sein.

- Oder es ist doch nur der Patient, der einem mitteilt, was man beim nächsten Besuch bitte Chips und Zigaretten mitbringen soll?

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Die Psychose lässt sich nur medikamentös einfangen. (Wenn der Betroffene überhaupt dazu bereit ist.) Dann nimmt der psychotische Schub langsam ab. Stark vereinfacht dargestellt, kann man sich das in Form einer flacher werden Sinuswelle vorstellen. Die Ausschläge nach oben sind die Wahnvorstellungen, die Ausschläge nach unten Depressionen. Die Gesprächsinhalte ändern sich. Jetzt redet man nicht mehr über Chip-Implantate, Handy-Überwachung und die Möglichkeit, dass andere Menschen die eigenen Gedanken lesen können, sondern darüber, ob der Betroffene wirklich krank ist. Warum ausgerechnet er in so eine Situation kommen musste. Und ob die Drogen wirklich der Auslöser waren. (Spoiler: nein, waren sie natürlich nicht. „Doch.“ „Nein!.“ „Doch.“ „Kann doch aber gar nicht sein. Wenn ich konsumiere, geht es mir doch besser!“ )

Was folgt ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Rückfall, der wenig später wieder einen psychotischen Schub auslöst. Alles beginnt wieder von vorne. Und man hat noch die Worte des Arztes im Ohr: „Mit jedem weiteren Konsum und dem damit ausgelösten psychotischen Schub sinkt die Wahrscheinlichkeit auf eine dauerhafte Heilung…
Gleichzeitig weiß man, dass mit jedem Rückfall auch die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass das behandelnde Krankenhaus den Patienten überhaupt wieder aufnehmen möchte. Auch das hat einem der Arzt gesagt.

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Als Außenstehender stellt man sich jetzt bestimmt vor, wie schlimm das für die Angehörigen sein muss. Und jetzt stellt Euch mal vor: es ist noch viel schlimmer. Ich habe nur einen Bruchteil der Wahnvorstellungen beschrieben, mit denen ich konfrontiert wurde. Auch habe ich nicht erwähnt, zu welchen absurden Situationen das teilweise geführt hat.

Das Schlimme, das wirklich Schlimme ist aber die Erkenntnis, dass man – außer Therapieplätze suchen, sich mit Sozialarbeitern und Ärzten absprechen und reden, reden, reden – eigentlich nichts tun kann. Dass man in letzter Konsequenz den Betroffenen fallen lassen und sich selbst überlassen muss, wenn er sich nicht auf die Therapie einlässt. Auch wenn das bedeutet, dass das eigene Kind obdachlos, weiterhin abhängig und dauerhaft psychisch krank sein wird.

Ich hoffe, dass ich irgendwann zusammen mit meinem Sohn auf diese schlimme Zeit zurückblicken kann und dankbar sein werde, dass wir es geschafft haben. Ich hoffe es sehr. Wir sind im Augenblick auf einem guten Weg: Er hat die Krankheit akzeptiert, befindet sich in Therapie und möchte (bis auf Weiteres) abstinent bleiben. Der letzte psychotische Schub klingt langsam ab, ein paar Halluzinationen sind aber noch da. Zum Glück aber so, dass er weiß, dass es mit seiner Krankheit zu tun hat und diese von der Realität unterscheiden kann. Der Kampf hat sich gewandelt - vom Kampf um die Realität zum Kampf gegen die Sucht und das Ringen um Normalität.

Ich weiß aber dass sich das auch augenblicklich ändern kann. Es muss nur das Telefon klingeln…
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