Bullitt  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 11.10.2019 22:25 Uhr
Thema: Nascar Heat 4 - Fake it 'til you make it
Nascar Heat 4 ist irgendwie ein seltsames Spiel.

Aus nicht-amerikanischer Sicht ohnehin, denn Nascar ist schon ein ziemlich eigentümlicher Sport.

Aber auch als Spiel an sich: Was in Nascar Heat 4 passiert, wirkt in vielen Situationen mehr wie fake als wie das Ergebnis von realitsischen Berechnungen. Aber diese Fakes sind meist sehr effektiv eingesetzt und helfen dabei, ein unterm Strich doch erstaunlich überzeugendes Spiel zu zimmern.
Man merkt dass das kein AAA-Titel ist, es wirkt aber trotzdem durchaus rund und gar nicht mal so billig. Es ist keine Simulation - also nicht wirklich realistisch - und trotzdem erstaunlich glaubwürdig und nachvollziehbar. Und es scheint sich seiner Stärken zu schämen, denn der Spielspaß ist recht gut versteckt in den durchaus umfangreichen Gameplay-Optionen.

Fangen wir mal mit dem Handwerk an... optisch ist es Mittelmaß - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Performance gerät allerdings manchmal ins Stocken, wo man es sich nicht wirklich erklären kann. Also nicht zwingend wenn man mitten im Feld der 40 Autos ist (was ja noch so ein wenig aus Ausrede herhalten könnte), sondern auch mal wenn man ganz allein auf der Piste ist. Die Pisten selbst (meist Ovale) sind durchaus gut ausgestaltet und mit vielen Details für die Atmosphäre. Man erkennt sie sofort wenn man Nascar verfolgt, auch solche Strecken die auf dem Papier identisch aussehen.
Sound klingt diesmal auch nach Nascar, also schön kerniger V8. Das war in den Vorgängern nicht immer so (ich hatte mit mal Nascar Heat 2 eher zufällig und billig gegönnt damals - Spiel war insgesamt auch ganz OK, aber klang echt beschissen).

Nun zum versteckten Spielspaß. In den Standardeinstellungen dauern Rennen nur wenige Runden, es gibt keine Flaggen und die Autos fahren sich quasi von allein. Zusammen mit der Tatsache dass man fast immer im Oval unterwegs ist, bestätigt Nascar Heat 4 zunächst einmal alle Vorurteile die man hierzulande so zu Ovalrennen im Allgemeinen und Nascar im Speziellen hat: Eine billige Vollgas-Orgie. Plump, anspruchslos, schlicht langweilig.

Zunächst sollte man alle Fahrhilfen abschalten. Das ist nicht elitär oder so (das Handling verzeiht auch ohne Fahrhilfen noch vieles), sondern schlicht und einfach unerlässlich: Der Gag an Nascar ist ja gerade der: Man hat extrem schwere Kisten mit extrem altmodischer Technik, Motto "overpowered and undertired". Die möchten eigentlich nicht wirklich Kurven fahren. Tut man es doch, dazu mit Geschwindigkeiten jenseits der 300 kmh, fängt es auch in den weiten Kurven eines Ovals an, lustig zu werden. Aber nicht mit Fahrhilfen. Echt nicht.
Außerdem sollte man die Rennen länger machen. Nascar ist ein Ausdauersport. Es ist nicht schwer, 5 Runden im Oval zu fahren. 50 Runden schon eher, wenn die Reifen irgendwann runter sind, immer wieder Autos überholt oder überrundet werden müssen und schon ein kleiner Fehler nicht nur einen sondern auch gern mal 10 Plätze kosten kann.
Außerdem Flaggen aktivieren. Ungeplante Rennunterbrechungen sind das Salz in der Suppe. Und "Stages" aktivieren. Stages sind quasi "Rennen im Rennen" und auch eine gute Gelegenheit um in den Pausen zwischen den Stages über Strategie zu grübeln. "Nehme ich jetzt neue Reifen und kann ich die anderen mit den besseren Reifen wieder überholen? Oder versuche ich, mit den schlechter werdenen Reifen vorn zu bleiben?"
Das Schadensmodell unbedingt auf "full" stellen. Auch das ist im Grunde Etikettenschwindel, denn es ist immer noch viel zu zahm, aber immerhin fällt damit das Fahren mit Vorbande als Option raus - es sei denn man macht es in der letzten Kurve, dann kann man sich häufig noch ins Ziel retten.

Kurz - mit folgenden Optionen wird das Spiel spaßig:
- Fahrhilfen aus
- Rennlänge 25% (dauert je nach Klasse so 10-30 min je Rennen)
- Benzin + Reifenverbrauch: 2x Normal (schnell genug um sich auch mal darüber Gedanken machen zu müssen bei 25% Rennlänge, ohne aber alle 5 Runden in die Box zu müssen)
- Flaggen an (strict yellow oder relaxed yellow ist relativ egal, Hauptsache mit yellow flags)
- 3 Stages
- Damage full

Die KI-Stärke passt sich übrigens an die früheren Rennen an in der Standardeinstellung. Das funktioniert auch ziemlich gut.

A propos KI: Diese ist wirklich sehr gut geworden: Gegner fahren glaubwürdige Linien, je nach Laune geben sie dir Raum oder auch nicht, machen auch mal Fehler. Sind sie dir wohlgesonnen, wird man auch mal angeschoben (sehr hilfreich auf den Superspeedways). Sind sie es nicht, lassen sie einen gern mal "verhungern" auf einer schlechten Linie. Direkte Rammstöße gibt es auch mal, aber eher selten und wenn man den entsprechenden Gegner vorher schon recht ausführlich geärgert hat.

Dieses System der Gegner ist so neu nicht (nein, ganz sicher keine Erfindung von Codemasters), aber gerade hier sehr hilfreich: Denn Nascar ist ein "self-policing Sport", was konkret heißt: Rempeln ist bei Nascar explizit erlaubt. Selbst gezieltes Abschießen eines anderen Fahrers wird nicht bestraft durch die Offiziellen, solange das Rennen frei ist, also grün. Warum möchte man das trotzdem nur selten tun? Weil Niemand Feinde haben möchte, die einem dann spätere Rennen versauen. Und das kann im Prinzip jeder sein - entweder die starken Fahrer im direkten Zweikampf, oder die schwächeren Fahrer während einer Überrundung.
Im Spiel wirkt das System vor allem über mehrere Rennen hinweg; also in der Karriere, und ist nicht so gnadenlos dass man nach einem schlechten Rennen gleich Feinde hat. Aber da man ab und zu auch ungewollt Kontakt hat, sollte man schon aufpassen und bewusst nur dann einsetzen, wenn unbedingt nötig. Wie Joey Logano zum Beispiel letztes Jahr, der sich buchstäblich ins Finale gerempelt hat und nur dadurch Champion werden konnte.

Strecken sind wie schon gesagt zum allergrößten Teil Oval - love it or leave it. NH4 macht aber einen ziemlich guten Job darin, die Unterschiede spürbar zu machen, die auf dem Papier gar nicht vorhanden sind.
Beispiel: die ganzen 1,5 Meilen D-Ovale sehen im Layout identisch aus, fühlen sich aber teils komplett unterschiedlich an. Das liegt am unterschiedlichen Banking, unterschiedlich rauhen Belag, unterschiedliche Streckenbreite usw. Da kommt es schon mal vor, dass ich auf dem 1,5er Oval in Vegas easy gewinne, und danach auf dem 1,5er in Charlotte große Probleme habe.

Es gibt auch ein paar "echte" Rennstrecken, welche dann auch ziemlich geil sind. Die amerikanischen Road Courses haben meist einfach einen Flow, der modernen Grand-Prix Strecken völlig abgeht. Road America, Sonoma und Watkins Glen kennt man vermutlich auch aus anderen Spielen. Mid-Ohio eher weniger, und mein absoluter Favorit ist Mosport in Kanada (offizieller Name "Canadian Tire Motorsport Park"). Diese Strecke ist zwar knackig kurz, hat aber gleichzeitig alles was so ein Road Course geil macht: schnelle und flüssige Kurven, eine lange Gerade, ein paar engere Kurven und Kuppen, welche das Auto gern mal ins Schlingern bringen. Hammer.

Spannend sind auch gern die Rennen, in denen man nicht vorn fährt. Ich hatte zum Beispiel in der Karriere, während ich offiziell in der zweiten Liga gefahren bin, einen Gasteinsatz für ein kleines Cup-Team. In Martinsville, auch "Paper clip" (Büroklammer) genannt. 40 Autos auf knapp 800 Meter, 125 Runden, da macht man sich keine Freunde. Ich mit einer lahmen Kiste, mein Ziel war Platz 35, ich hab nach harten Kampf Platz 34 geschafft. Und mich riesig gefreut. Was für ein Hammer Rennen!

Die Karriere in Nascar Heat 4 ist generell durchaus gut gemacht.
Man kann sich hocharbeiten von einer kleinen Dirt-Racing Serie hin zum Nascar Cup. Wer nicht ganz unten anfangen will, kann sich auch aussuchen, in welcher Klasse man startet. Der Anteil an Micro-Management ist ebenfalls flexibel: Will man nur Rennen fahren, fährt man für ein bestehendes Team. Will man sich um etwas mehr kümmern, führt man sein eigenes Team. Hier kümmert man sich auch um Sponsoren und Mechaniker, sowie die Vorbereitung der Autos vor dem Rennen. Das ist recht simpel gehalten, aber gerade die Vorbereitung der Autos zeigt genauso plump wie anschaulich, was kleine Teams von großen Teams unterscheidet.
Ich habe das eigene Team für eine Saison in der Dirt Serie gemacht. Nett, aber in den Nascar-Serien fahre ich jetzt für bestehende Teams.

Quick Race oder Einzelsaison gibt's selbstverständlich auch. Ein paar kleine "Challenges" für weitere Paint Schemes (Bemalungen) der Autos - nichts Weltbewegendes.

Gibt übrigens auch DLC und Season Pass. Beinhaltet quasi nur Kosmetik (Bemalungen). Wer Nascar nicht regelmäßig verfolgt, dem kann das völlig egal sein. Ansonsten mag das ganz nett sein, wenn Fahrer X auf Strecke Y im Spiel auch das Design hat, welches er im echten Rennen hatte. (Wer Nascar nicht verfolgt: Designs wechseln gern und oft; quasi kein Fahrer ist eine ganze Saison im selben Design unterwegs)

Hab ich noch was vergessen? Kritik?
Neben der mittelmäßigen Grafik + Performance ist es vor allem der Spotter, also der Typ, der dir über Funk sagen soll was um dich herum so los ist. Die Ansagen ("Gegner außen / innen") kommen häufig spät oder gar nicht. Das hat Teil 2 seinerzeit aber besser gemacht.

Ansonsten hab ich nicht wirklich was zu meckern. Sehr geiles Spiel für die 3 Leute hierzulande, die Nascar mögen.

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tl;dr: Nicht wirklich realistische, aber mit den richtigen Einstellungen trotzdem erstaunlich glaubwürdige, spannende wie spaßige Unterhaltung. Ist jedoch exrem "special interest", also wer sich nicht vorstellen kann, (fast) nur im Kreis zu fahren, sollte die Finger davon lassen.

Christian
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