membran  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 08.04.2019 13:54 Uhr
Thema: Senf Antwort auf: Who watches the Firewatch? von Felix Deutschland
>Was ich aber bemerkenswert fand, war der fast absurd bescheuerte Anfang, wo man in Texttafelform durch die Backstory der Spielerfigur gejagt wird. Da dachte ich zuerst auch "Oha, das wird wohl richtig, richtig, RICHTIG scheiße!", aber das täuscht. Ich kann mich nicht daran erinnern, je ein Spiel mit einem derart schlechten Anfang gespielt zu haben, dass mich danach derart schnell doch noch auf seine Seite bekam. Wenn man den Plot des Spiels nacherzählen würde, bspw. seinen Kindern am Lagerfeuer, dann wäre das immer noch eine gute Geschichte. Aber der Anfang ist völlig behämmert. Sogar zwischen einzelnen Texttafeln existieren völlig unnachvollziehbare tonale Umschwünge.

Ich hatte nach dem Durchspielen letzte Woche mehrere Think Pieces dazu gelesen, und in einem wurde gerade dieser Anfang abgefeiert. Ich muss sagen, ich fand den gar nicht mal schlecht gemacht. Ein interaktives Bend Your Own Backstory, das teils Jahre nach vorne springt und die markanten Tiefpunkte einer fünfzehnjährigen Beziehung auf wenige Texttafeln runterbricht, immer im Wechsel mit kurzen Ausschnitten des ersten Betretens des Walds.

In einem dieser Artikel meinten sie, dass es nicht nur der schnellen Exposition dient, sondern dass der Spieler mit diesen kleinen (und letztlich belanglosen, aber das ist egal) Entscheidungen einen gewissen Anteil an dieser Beziehung verspürt. Es ist ein (kleiner) Unterschied, ob dir das Spiel schlicht mitteilt, dass die Frau ein Jobangebot in einer fernen Stadt bekam und der Mann sie überredete, den Job auszuschlagen - oder ob der Spieler dem Spieler angeboten wird, sie davon zu überreden oder eben nicht. Mag ja sein, dass hinter beiden Entscheidungen dasselbe Ergebnis steht (und sie Job letztlich nicht antritt. egal, was man auswählt), aber das kann man ja beim ersten Mal Spielen nicht wissen.

Das ist imho ähnlich wie der Effekt bei Telltales interaktiven Animationsfilmen, wenn das erste Mal "xyz will remember this decision" eingeblendet sieht. Nur kommt man bei Firewatch anders als bei Telltales Spielen letztlich nicht dahinter, dass das nur Augenwischerei sein könnte. Es hilft eben, dass es direkt zu Beginn kommt und dann nie wieder, und man diese Auswahldialoge gegen Ende gar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Nichtsdestotrotz haben einige das ganze Spiel hindurch eine unterbewusstes Anteilnahme an der Beziehung der beiden, eben weil sie anfangs zehn knappe Entscheidungen dazu getroffen haben. Ich bin geneigt, dem zuzustimmen.


Zum Rest des Spiels. Die Qualität der Grafik, Atmosphäre und Voice Acting stehen ja außer Frage, da verliere ich jetzt keine Worte mehr drüber. Leichte Spoiler voraus - ich lass jetzt mal die Spoiler Tags weg und gehe mal davon aus, dass dieser lange Satz hier ausreicht, dass Leute, die keine Spoiler wollen, rechtzeitig aufhören, zu lesen, also, spätestens jetzt - Ich fand das unaufgeregte Ende sehr passend. Ich bediene mich mal wieder an einem dieser Think Pieces, die die langweilige Normalität von Mid Life Crisis und Menschen mittleren Alters zitierten und in dem Spiel abgebildet sehen. Es werden mehr als eine Handvoll Gewehre aus dem Hause Chekov platziert, aber kein einziges löst letztlich davon aus. Es gibt keine Regierungsverschwörung, keinen Axtmörder, der einem die Tat in die Schuhe schieben will und auch kein Love Story Happy End, wo man am Ende die Silhouette der Frau mit der tollen Stimme gegen die gleißende Sonne sieht mit Fade to White. Es ist einfach nur eine letztlich unspektakuläre Story eines Typen, der den Sommer über in locker vor sich hinlodernden Wäldern hockt und vor seinen heftigen RL Problemen davonläuft, aber von einem anderen Typen gepiesackt wird, der dasselbe schon seit Jahren macht und dessen Probleme noch ein ganzes Stück härter sind.

Es ist im Endeffekt eine Videospielumsetzung dieses Memes hier -




Nur dass die Flammen am Ende buchstäblich die gesamte Spielwelt übermannen und die alle Charaktere zwingen, den Quadranten zu verlassen. Wo der Spielercharakter dann in die Zivilisation zurückkehrt und damit (vermutlich) seinem Problem ins Auge blicken wird, legt der Gegenspieler, schon da eine extreme Version des Spielercharakters, noch drei Schippen drauf und zieht noch tiefer in den Forst zurück, vermutlich auf Nimmerwiedersehen. Dass das Ganze natürlich auch auf einer Meta-Ebene mit dem Spieler funktioniert, der während der laufenden Credits vielleicht Parallelen zu sich selber und der eigenen Prokrastination eingesteht (oder eben nicht), versteht sich ja von selbst.


4/5 Antiklimaxe.


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***Diese Nachricht wurde von membran am 08.04.2019 15:39 bearbeitet.***
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