Bullitt  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 10.09.2016 02:56 Uhr
Thema: Re:Xbox One Version nach dem Patch unspielbar Antwort auf: Re:Xbox One Version nach dem Patch unspielbar von membran
>>Naja, diese Qualitätskontrolle durch den Konsolenhersteller ist ja jetzt grds. nichts verkehrtes. Überhastete Patches und Fixes sind ja auch nicht immer fehlerfrei.
>
>Du solltest vielleicht mal nachlesen (gibt diverse detaillierte Beschreibungen von Indie Devs zum Thema), was in der Zertifizierung geprüft wird, Stichwort "Standards". Da werden Checklisten abgehakt. Es geht darum, dass die passenden Fehlermeldungen ausgeschmissen werden (Pad abziehen, Netzwerkkabel ziehen, Disc Tray aufmachen, während das Spiel läuft und 150 andere Fehlerreproduzier-Tests) ; dass sich in einem Ladebildschirm immer was bewegen muss (darum die wechselnden Hints in jedem Spiel, btw), dass es "Use <analogue stick symbol" heißen muss und NICHT "Use the <analogue stick symbol>", dass keine Playstation-Button in einem Xbox-Spiel angzeigt werden und umgekehrt. Sowelche Sachen.


Ja, das ist Bürokratie. Nicht mehr aber leider auch nicht weniger.

>Aktuell und must-read, erklärt auch nachvollziehbar, warum es ohne Day 1 Patch nicht mehr geht:
>[http://www.gamasutra.com/blogs/RamiIsmail/20160807/278721/Patch_the_Process.php]


Zum einen sehe ich es nicht so, dass die aus der Zeit gefallene Konsolen-Zertifizierung zwingend Day1-Patches nötig machen soll. Da gibt es keine Kausalität. Ja, Day1-Patches sind ein probates Mittel, mehr Zeit zu gewinnen, welche heute kostbarer denn je ist. Aber: Wenn man bewusst den Day1-Patch als "wahre" Deadline nutzt, statt des Gold-Masters, geht man damit neue Risiken ein. Es ist ein Trade-Off Risiko gegen Zeit, es ist kein Allheilmittel.

Zum Anderen macht der verlinkte Text einen ganz entscheidenden Denkfehler, auf welchen dieses gesamte Plädoyer für Day1-Patches aufbaut: Man geht davon aus, dass Gold-Builds nicht für die Öffentlichkeit bestimmt wären. "No Man’s Sky developers shows changelist for the Day 1 patch to stop this nonsensical discussion about a build that wasn’t meant for the public."
Der Gold-Build wird millionenfach auf permanente Datenträger gepresst und in alle Welt verteilt. Selbstverständlich wird das damit in dieser Form auch in die Öffentlichkeit gelangen und gespielt werden - man kann es unmöglich verhindern, solange man keinen permanenten Onlinezwang einbaut. Natürlich kann man jetzt ganz fest mit den Füßen auf den Boden stampfen, die beleidigte Leberwurst spielen und sagen "Ihr hättet das gar nicht spielen dürfen!!1", aber allein die Annahme, dass so etwas NICHT passieren würde... ist bemerkenswert naiv. Mögliche Gründe, warum jemand ein Spiel offline spielen möchte und wird, sind vielfältig. Selbst wenn die Konsole online betrieben wird - was ist, wenn der Day1-Patch last minute in der Zertifizierung hängen bleibt?

Hier schließt sich der Kreis wieder zu dem von mir genannten Trade-Off. Wenn man den Gold-Build nicht als Public Release sieht, sondern lediglich als Release Candidate oder gar eine späte Beta, dann MUSS man trotzdem davon augehen, dass jegliche Probleme der Gold-Version öffentlich werden und damit öffentlich diskutiert werden. Schließlich landet der Gold-Build in die Läden und wird dort als *fertiges* Spiel verkauft. Reviews auf dieser Basis sind damit IMHO absolut legitim, da viele Menschen explizit diesen Build kaufen und spielen werden.

Es sollte im eigenen Interesse der Entwickler und Publisher liegen, dass auch Gold-Builds eine runde, fehlerfreie Erfahrung liefern - wenn man solche Probleme wie bei No Man's Sky vermeiden will. Falls man dort tatsächlich felsenfest davon ausgegangen sein sollte, dass Niemand die Gold-Version spielen und reviewen wird, dann hat das Projektmanagement massiv versagt. Genauer gesagt, das Risikomanagement. Es ist ein Risiko mit sehr hoher Eintrittswahrscheinlichkeit; das muss einfach erkannt und bedacht werden.

Natürlich sorgt ein bereits "polierter" Build auf Disc dafür, dass ein Day1-Patch weniger effektiv wird, weil dann viele Arbeiten doppelt erledigt werden müssen. Besser, man stellt sicher, dass nur noch wenig zu tun ist zwischen Gold und Release.

Ein anderer Punkt: Version 1.0-Software ist niemals fehlerfrei. Auch deshalb ist es ein zusätzliches Risiko, die 1.0 auf Day1 zu legen, statt auf den Gold-Termin.

Was mich etwas an der Professionalität des Textes zweifeln lässt, ist folgendes: "Do you think audiences would appreciate a developer just kind of doing nothing for three months?"
Es ist doch vollkommen logisch, dass nicht jeder Projektmitarbeiter in jeder Projektphase was zu tun hat. Ob die Öffentlichkeit das versteht, ist zweitrangig. In permanenten Entwicklungsstudios laufen schon vor Release weitere Projekte, auf welche viele Entwickler noch vor Release von Spiel X umschwenken. Bei einzelnen Spielen enden halt viele Verträge vor Release.
Allein als Beschäftigungstherapie den Entwicklern noch derart knapp vor Release auf gut Glück "irgendwas" tun zu lassen bringt neue Gefahren, weil es mit ziemlicher Sicherheit so nicht geplant werden kann, welche Tätigkeiten nach Gold noch anstehen.
Das soll nicht bedeuten, dass ich dem Autor Fachwissen abspreche. Ich bezweifle anhand der Aussagen lediglich, dass er den Projektmanagemnt-Überblick hatte, und daher erscheint mir die besagte Einstellung etwas kurzsichtig.


Egal wie man dazu steht: letztendlich beweist die ganze Diskussion Gold-Build vs. Day1-Patch vor allem eine Tatsache: Software auf physischen Datenträgern ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist ein Medienbruch, der mit dem Internet nicht mehr nötig ist und von der Geschwindigkeit des Internets überholt wurde. Auch mit verschlankten Zertifizierungsprozessen wird die Disc immer langsamer sein als der Patch, damit wird man immer in Versuchung sein, ein Spiel mit dem Patch fertigzustellen, nicht mit der auf Disc gepressten Version.

Christian
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