c  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 25.10.2006 15:41 Uhr
Thema: Everybody hurts
Ich bin allein.

Objektiv betrachtet ist diese Aussage natürlich falsch: Ein Stab hochrangiger Mitarbeiter sitzt konzentriert vor ihren Bildschirmen und ist damit beschäftigt die taktische Karte zu aktualisieren oder meine Befehle an die unzähligen mir unterstellten militärische Einheiten zu delegieren. Ich befinde mich an einem geheimen Ort unter der Erde irgendwo im lateinamerikanischen Block. In diesem unterirdischen Bunker wird in den nächsten Stunden nichts geringeres als das Schicksal der Welt entschieden werden. Der Erfolg dieser militärischen Operation lastet ganz allein auf meinen Schultern.

Defcon 5

Der Verteidigungszustand des Militärs wird über den Begriff Defcon aufgeschlüsselt, der in fünf Alarmstufen unterteilt ist. Noch herrscht – offiziell – Frieden mit dem gewaltigen asiatischen Block. Es ist allerdings fraglich, wie lange dieser noch andauern wird. Ich entscheide mich vorsichtshalber die relevanten militärischen Kräfte zu mobilisieren. Dabei gebe ich mich keinen Illusionen hin: Infanterien oder Panzer kämen in einem Krieg, der innerhalb weniger Stunden entschieden sein wird, nicht zum Einsatz. Ich beschränke mich also auf das Notwendige: Raketensilos, Radaranlagen sowie Flughäfen und die Flotte werden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.

Defcon 4

Die politische Lage spitzt sich zu. Der Großteil der Flotte erhält den Befehl Kurs in Richtung Europa zu nehmen. Zwölf Atom-U-Boote jedoch gleiten lautlos nach Osten. Der asiatische Block soll somit in einer Zangenbewegung eingeschlossen werden.

Defcon 3

Erstmals in diesem Konflikt autorisiert die politische Führung nun See- und Luftgefechte. Jagdfliegerstaffeln starten von meinen Flugzeugträgern um Aufklärungsflüge durchzuführen. Als der erste Feindkontakt im Pazifik stattfindet, verfliegt die letzte Hoffnung auf eine diplomatische Lösung. Die Anspannung der Mannschaften, die sich für den nun bevorstehenden Waffengang vorbereiten, kann ich nur erahnen. Von der kleinen Flotte im Pazifik aus heben die ersten Tarnkappenbomber ab.

Defcon 2

Unbemerkt erreichen meine U-Boote japanische Hoheitsgewässer. Ich entscheide mich, die Jäger im Atlantik weiterhin Aufklärungsflüge machen zu lassen, obwohl die Flugzeugträger unter schwerem Beschuss stehen. Da das Ende der Atlantischen Flotte abzusehen ist, verzichte ich auf Verteidigungsmaßnahmen und befehle den Piloten tief in feindliches Gebiet vorzustoßen.
Von der Seeschlacht, die vor der französischen Küste tobt, nehme ich ansonsten keine Notiz. Weder höre ich die die Proteste der Kapitäne, noch erreichen mich die Rufe der Verwundeten. Alles was ich sehe, sind eine handvoll farbiger Symbole, welche der Computer langsam über die Weltkarte bewegt – oder löscht, sobald die betreffende Einheit zerstört worden ist.

Defcon 1

Eine Sirene kündigt die maximale Einsatzbereitschaft an. Von den noch verbleibenden Trägern befehle ich Bombenangriffe auf Moskau, Leningrad und Gorki. Um den gegnerischen Abwehrschirm zu durchdringen, gebe ich Anweisung, zeitgleich so viele Interkontinentalraketen wie möglich zu starten. Einer ballistischen Flugbahn folgend, steuern diese zielgerichtet auf Städte und militärische Anlagen zu.

Ein Donnergrollen ähnelndes tiefes Dröhnen kündet von einer Atomexplosion über Mexiko City. Nüchtern meldet der Computer den Verlust von 2,4 mil. Menschenleben. Mehrere Mittelstreckenraketen durchdringen meinen Raketenschild und lassen Atompilze in Peru, Brasilia und Lima entstehen. Der Gegenschlag konzentriert sich damit auf meine Städte und zieht kaum militärische Anlegen in Mitleidenschaft. Hervorragend, denn somit bleibt mir die Gelegenheit zu einem zweiten Angriff.

Nachdem ich mich erfolgreich auf die Vernichtung der gegnerischen Abwehr konzentriert habe, folgt nun das Bombardement der schutzlosen zivile Ziele: Tokio und Moskau verglühen im atomaren Feuer. Keine größere Stadt bleibt verschont und mit Befriedigung nehme ich zur Kenntnis, dass ich die meisten feindlichen Verluste in diesem Krieg zu verantworten habe. Der Feldzug ist damit vorbei und ich kann mich als Sieger eines Krieges fühlen, in dem der Erfolg nach der Höhe der vernichteten Menschenleben bemessen wird. Eine computergenerierte Statistik informiert mich noch über die Verluste, dann ist der Krieg offiziell zu Ende.


Defcon ist eines von den Spielen, welche man in spielerischer Hinsicht nicht unbedingt als sonderlich gut bezeichnen kann, die aber ein faszinierendes Spiel-Erlebnis bieten. Maßgeblich tragen dazu das Szenario, die Optik und der Soundtrack bei. Der Gegensatz zwischen Dargestelltem und „tatsächlichem“ Geschehen könnte größer nicht sein: Die furchtbarste denkbare Katastrophe der Menschheit wird mit Hilfe nüchterner Symbole visualisiert, eine Atomexplosion über einer Stadt ist eine kurze Statusmeldung auf der Karte wert und wird möglicherweise von einem Aufatmen des Spielers begleitet, der froh ist, dass seine Atomsilos dafür verschont geblieben sind.

Auch der Soundtrack, der eine unheilsschwangere Stimmung heraufbeschwört trägt in Verbindung mit den gelungenen Effekten dazu bei, das Geschehen zu untermalen (z. B. ist eine schluchzende Frauenstimme zu hören).

Der interessanteste Punkt an Defcon ist dabei vielleicht, dass der Spieler nicht dazu ermuntert wird, sich für den Konflikt zu begeistern. Obwohl man die Rolle des ausführenden militärischen Organs inne hat, wird einem mulmig dabei, den gewaltsamen Tod von Millionen von Menschen herbei zu führen. Dabei hat die symbolische Darstellung nicht den Effekt, den Spieler von diesem Krieg zu distanzieren, sondern wirkt im Gegenteil wie eine Mauerschau, welche den Grad der Immersion noch erhöht: Die Imagination des Spielers wird gerade durch das nicht-gezeigte angeregt, es sich selbst vorzustellen.

Kann damit Defcon als Antikriegsspiel bezeichnet werden? Diesen Anspruch erfüllt das Spiel nicht. Aber auch, wenn sich der (wohlige?) Schauer nur um seiner selbst willen einstellt, stellt dies eine bemerkenswerte Alternative zum üblichen Hurrah-Patriotismus dar, der auch in seiner abgeschwächten Form immerhin noch die Notwendigkeit eines bewaffneten Konflikts betont („einer muss es ja machen“). Die Tatsache, dass man sich als Spieler dennoch bereitwillig dazu hergibt, auch einen negativ konnotierten Atomkrieg zu führen und sich nach einigen Partien der Grusel langsam verflüchtigt, wäre aber sicherlich ein interessanter Ansatzpunkt für die Reflektion über die eigene Wahrnehmung von Computerspielen.

Spielerisch unterscheidet sich Defcon m. A. nach angenehm von den üblichen Strategiespielen, da es hier nicht auf schnelle Reaktionen ankommt. Das Spiel dauert nicht länger als eine Stunde und das Ressourcenmanagement sowie ein 'Techtree' entfallen komplett. Im Grunde setzt man zu Beginn nur seine Einheiten (s. o.) und befehligt diese dann im weiteren Verlauf. Dabei läuft ein (in seiner Geschwindigkeit regulierbarer) Countdown, nach dessen Ablauf die nächste Phase beginnt, welche weitere militärische Optionen eröffnet.

Leider lässt die handwerkliche Seite des Spieles zu wünschen übrig. Vor allem die Steuerung kann man nur als mangelhaft bezeichnen: Warum muss ich jedes Atom-Uboot in einem Verband, jedes Silo und jeden Flugzeugträger einzeln anklicken, wenn ich doch der ganzen Gruppe den gleichen Befehl zukommen lassen will? Die angedeutete ballistische Flugbahn (Kurve) sieht zwar Wargames-like sehr dramatisch aus, ist auf der 2D Karte aber fehl am Platze und kann bei mehreren Mitspielern dazu führen, dass die Raketen von anderen Spielern abgeschossen werden, bevor sie ihr Ziel erreichen. Außerdem sind einige Positionen auf der Weltkarte vorteilhafter als andere.

Ich kann abschließend nur jedem empfehlen, einmal die Demo auszuprobieren und sich bei der gespenstischen Atmosphäre ein wenig zu gruseln, während man dem Spielziel, dem gewaltsamen Tod möglichst vieler Menschen nachkommt. Bevor man sich jedoch zu sehr über die Steuerung ärgert, sollte das Spiel flux wieder von der Platte entfernt werden.

[http://www.everybody-dies.com/]
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