Felix Deutschland  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 23.04.2017 15:29 Uhr
Thema: Re:"63% sind ja nur ein Drittel der Wahlberechtigten Antwort auf: Re:"63% sind ja nur ein Drittel der Wahlberechtigten von dixip
>>Deshalb Wahlpflicht, statt nur Wahlrecht!
>
>Das Wahlrecht umschließt auch das Recht, dass einem die Wahl scheißegal ist.
>Nicht-Wähler wählen aus meiner Perspektive stillschweigend das Wahlergebnis, das rauskommt.


Sehe ich grundsätzlich ähnlich, lässt sich nur leider besser auf die Wahl eines Schulelternbeirats oder Kassenwarts anwenden als im vergleichsweise "großen Spiel" repräsentativer Demokratie, wo ab einem bestimmten Punkt, völlig unabhängig ob von Seiten der Sieger oder Verlierer, irgendwann berechtigterweise die Frage auf die Legitimation einer Wahl kommt.

Demokratie ist, in Sachkundeunterricht-vierte-Klasse-Termini, die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Das ist dann schon völlig aus dem Ruder gelaufen, wenn in einer Stadt ein fünftel der Wahlberechtigten für den FN in Frankreich stimmt und der FN dann halt regiert. Vor allem, wenn man guckt, woher die Zahlen kommen: Wie immer streiken besonders die jungen Wähler. Und da ist der erste Impuls natürlich (Neben "Wer nicht wählt, akzeptiert stillschweigend das Wahlergebnis", was einerseits schwer zu widerlegen ist, andererseits harter Bullshit) zu sagen: Schauts, das faule Pack, spielt lieber Handy als zu wählen.

Aber was für eine Wahl haben Menschen unter 40 heute in Frankreich? In Deutschland genauso, und in England nicht anders - jede Politik entwickelt maximal eine Perspektive für vier bis maximal (Und das ist sehr selten und ambitioniert, putinmäßig ambitioniert) acht Jahre. In erster Linie wird Klientelpolitik für Ältere gemacht. Martin Chulz will Arbeitslosen über 50 mehr ALG1 spendieren, geil. Das ist der meines wissens nach "linkste" Punkt auf seiner schmalen Agenda. Warum soll ich den wählen? Warum soll jemand, der zehn Jahr jünger ist als ich und nicht wie Leute, die zehn Jahre älter sind als ich, in Begriffen wie "Neger" oder "linksversifft" denkt, irgendeinen der Kandidaten da wählen? Der ganz linke Kandidat ist EU-feindlich, und so sehr sind die auch nicht mit dem Bömmel gewixt, dass sie unbedingt das Schicksal ihrer altersgenossen auf der Affeninsel freiwillig mittragen wollen.

Man kann sogar plausibel argumentieren, dass die etablierte Politik sich nicht nur nicht um junge Wähler schert, sondern aktiv versucht, sie von sich fernzuhalten. Sei es mit der Schranke einer langen Parteikarriere, bis der Beitrag sich mal in "Macht" auszahlt, oder dem gesamten Prozess und Apparat, der sicherlich nicht daran interessiert ist, so reformiert zu werden, wie er es müsste, wenn er fair die Rechte derer vertreten sollte, die dieses Land länger als die nächsten 20-30 Jahre mit ihrer Anwesenheit lebenderweise beehren werden.

Und da hat man dann auch die Gründe für Politikverdrossenheit: Wenn das Gefühl hat, eh erst von der Politik wahrgenommen zu werden, wenn man 40 ist, wächst man 40 Jahre lang in dem Gefühl auf, dass die eigene Stimme egal ist. Und warum sollte man Ü40 dann noch seine Stimme in ein System stecken, das sich eh nie um einen geschert hat?`Die Alternative zu diesem System kann ein grotesker Clown mit einem Rettich im Arsch sein, siehe Trump, solange die vermeintliche Distanz lange genug betont wird, kriegt der die Stimmen. Ob er links, rechts oder ein Marsmensch ist. Solange niemand ernsthaft davon ausgeht, dass sich durch diese Alternative was ändert (Und der Hauptantrieb muss hier vom "Apparat" ausgehen; es können noch so viele Beobachter Handlungsbedarf anmahnen, dass muss eine Partei oder eine Regierung nicht jucken), kann sich diese im System positionieren und durch die genannten Wechselwirkungen an die Macht kommen - es ist davon auszugehen, dass diese Repräsentanten inkompetenter sind als das System, und einfach nur noch mehr Scheiße bauen, und so noch mehr Politikverdrossenheit entsteht.

Ich bin immer noch für das Recht auf Nichtwählen. Es ist ja wurscht, ob man die Leute mit Strafandrohung an die Urnen prügelt und sie dort den Zettel durchstreichen oder zu Hause bleiben. Man muss aber berücksichtigen, dass einfach so, wie die Dinge gerade laufen, ein zersetzender Effekt entsteht: Einander überlappende Legislaturperioden erzeugen, egal wo man lebt, auf regionaler und nationaler Ebene ein Gefühl des "ständigen Wahlkampfs", also des ständig erbetenen Votums, das aber in der praktischen Erfahrung immer weniger Auswirkung hat und so das subjektive Gefühl von Stagnation hervorruft (Nicht völlig zu Unrecht!). Da drauf setzt du noch das "Peter-Prinzip" ([https://de.wikipedia.org/wiki/Peter-Prinzip]) derzeit florierender populistischer Strömungen, und du hast "westliche Demokratie, Stand 2017".

Ist nicht soooooo geil, ehrlich gesagt. Ein bißchen versteht man realfaschistische Polizeistaaten wie Russland oder China, die lieber gar keine richtigen Wahlen abhalten, weil das Volk wieder und wieder (nicht nur aus Sicht der Mächtigen) sich als zu Blöde erwiesen hat, vernünftig zu wählen. Und da baut sich ein autokratisches System schneller auf als ein Bildungs- und Erziehungsapparat, der das Volk zu aufgeklärten Demokraten erzieht. Das funktioniert ja nichtmal, so könnte man argumentieren, hier in Deutschland.
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