Felix Deutschland  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 03.07.2016 16:08 Uhr
Thema: Ich war selber überrascht wie entspannt ich war Antwort auf: Intensiv von michelangelo99
Ich weiß noch, wie ich als zehn- oder Elfjähriger bei der EM 96 im Halbfinale gegen England vor Erleichterung fast geheult hätte, weil ich da so emotional investiert war. Dann zum Glück die WM 98 nur am Rande mitbekommen, weil ich da auf England-Austausch war und alles andere interessanter; die Niederlage gegen Kroatien lief aufm TV im Hintergrund. EM 2000 war ja Käs mit Meister Ribbeck, 2002 einfach weird (8:1 gegen Saudi-Arabien, Torschützen u.a. Biere und Carsten Jancker...), irgendwie ins Finale geluckt und da dann zwei eingeschenkt bekommen, weil sogar King Kahn die Büx voll hatte und Schnix alleine nix reißen konnte. 2004 im Gran-Canaria-Urlaub nachm Abi war das Vorrundenaus leicht zu verkraften, 2006 war alles nervig; ich wollte mich auf Fußball freuen aber Stress von aussen ließ das nicht zu und diese faschistoide "Schlaaaand"-Stimmung war dazu noch das Allerschlimmste. 2008 hab ich mich bewusst von so Public Viewing Dreck abgemeldet und meinen Spaß, das Finale war ernüchternd. 2010 alles geguckt, musste eigentlich Diplom schreiben, aber wayne. War geil. Gegen Spanien ging halt nix, ob das an Urs Siegenthaler lagt, wage ich aber zu bezweifeln. 2012 war auch wieder gut, weil man seit 2006 (Bzw. Confed Cup 2005) merkte, dass es merklich in eine vernünftige Richtung geht und die Nationalmannschaft trainiert wird, wie man eine Fußballmannschaft zeitgemäß trainieren muss; der gute Werbeeffekt der Nationalmannschaft stellte zudem sicher, dass die alles an Perks und Zückerchen in den Arsch geblasen bekamen was ging. Eigene Feriendörfer die extra nur fürs Team gebaut werden usw., also Vorbereitung auf perfektem Niveau möglich; alle im Team in erster Linie nach innen Wortstark im Gegensatz zu stimmungsvernichtenden Penisbacken wie Balle, Kahn oder Lothar, alles gut. Man musste sich nicht über irgendwelche Scheißmillionäre ärgern, die pomadig ihren Stiefel runterziehen oder ostentativ ihre Limitationen zur Schau stellen, sondern Leute die Bock hatten auf Action. Jogi hat da auch immer einen steten Strom an erfolgshungrigen Jünglingen hergestellt, die kein großes Problem damit haben, ultraautoritär behandelt zu werden und unter ständiger "Gesinnungsprüfung" zu stehen, auch ausserhalb der Zeiten bei der DFB-Herrenauswahl.

Das Ergebnis ist ein Team aus willfährigen Erfolgssklaven, die jeden Motivationsshit vielschichtig positiv verarbeiten und sich auf ihren Kram konzentrieren, weil sie merken: Da geht was. Das einzige, auf das wir konstant keine Antwort finden, ist ultraharter Defensivfußball, da wird das ganze zum Glücksspiel. Und da gebietet es die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland nicht ewig und drei Tage jedes Elfmeterschießen bei Turnieren gegen Italien verliert.

Ich war total tiefenentspannt, teilweise sogar unbeteiligt. 2014 war da natürlich der Gamechanger, dieses Spiel gegen Brasilien war und wird auf immer das Unfassbarste bleiben, was ich in diesem Sport live mitverfolgt habe. Für mich persönlich schien das Spiel ungewinnbar und ich hatte mich schon an die feinen Spiele um Platz 3 gewöhnt, die wir regelmäßig gegen platte Gegner für uns entschieden. Und dann stand es nach ner halben Stunde 5:0 für Deutschland, völlig krank, aber folgerichtig, wenn man bedenkt, dass unsere Nationalmannschaft über die Jahre und über die Erfolge hinweg irgendwie weniger Druck und mehr Routine entwickelt hat. Ein Halbfinale ist eben keine Alarmstufe-Rot-Ausnahmesituation mehr, sondern Alltag für Spieler, die zum Großteil alle schon im CL-Finale standen und dies erfolgreich für sich entscheiden konnten. Die Leute sind alle durch das Hightech-Nachwuchsprogramm des DFB gegangen und haben von dem Trauma der Ribbeck- und Völler-Jahre profitiert, welches Fußballinternate selbst für Drittligisten verpflichtend vorsieht.

Das allein kauft keine Titel, ist aber ein himmelweiter Unterschied zu den DFB-Auswahlteams davor. Das ist auch menschlich ein ganz anderer Charaktertyp; Leute, die nie einen Mediencoach brauchten, weil das bei ihnen ohnehin auf dem Stundenplan stand - in der Schule. Die brauchten kein Coachung für sowas im Erwachsenenalter. Das sind Leute, die es persönlich peinlich finden, bei der BILD in der Tasche zu stecken wie Loddar, weil sie dafür von ihren coolen erfolgreichen Buddies nicht mehr ernst genommen werden würden. Kann man nicht mehr mit Mesut im Jet nach Ibiza um da mal den CR7 kennenzulernen bei Mimosas und Shrimpcocktails.

Jedenfalls hatten wir Manuel Neuer im Tor, weswegen es latten war, dass drei relativ sichere Schützen vergeben haben. Manuel Neuer ist ein Robotermensch aus der Zukunft, dem es scheißegal ist, gegen wen er wann wo irgendwelche Elfmeter halten muss, der macht das halt einfach. Beeindruckt war ich davon, dass bei Kimmich und Hector die Nerven hielten. Aber nach unserem Treffer war ich eigentlich ziemlich entspannt. Ich hasse Elfmeterschießen mit deutscher Beteiligung, und es war auch gestern abend sehr unenstpannt, aber ich war echt froh, da noch hingucken zu können und Ruhe aus der Gewissheit zu ziehen, dass immer noch alles möglich ist, solange immer noch alles möglich ist, diese Allgemeinposten eben, die nunmal tatsächlich zutreffen. Und so gesehen lief ja alles nach Plan.

Da muss schon wirklich einiges schiefgehen, wenn wir es dieses Jahr nicht reißen. Und seit der Brasilien-Episode ist dem Mannschaftsstamm selbst klar, dass sie nur limitiert ist durch den eigenen Fail.

Ich finds nur immer beklemmend, wenn dann die Anhängerschaft entsprechend aufdreht und das alles vereinnahmt. Jedes mal, wenn die Ränge singen "Die Nummer 1 der Welt sind wir!" denke ich mir immer "Nein, seid ihr nicht, ihr seid ein Scheißdreck, die Nr. 1 der Welt steht da auf dem Rasen und kickt, WIR sind alle nur irgendwelche Schluchis mit nem Erfrischungsgetränk in der Hand, die sich das angucken." Unangenehm. Das "Scheiß Italiener" hatte ich selber gar nicht gehört, wahrscheinlich zur Melodei von "Scheiß FC Bayern", wa? Manche liebliche Weisen sind schon so ins Ohr gegangen, die nehme ich gar nicht mehr bewusst wahr. Die Italiener waren auch sehr gut. Nach vorne nicht viel weniger gefährlich als wir. Am Ende isses halt ne Lotterie, keiner war Schuld und Buffon ist und bleibt 1 Ehrenmann, immer ein Lächeln auf den Lippen und der erste Gratulant, als Müller ein wenig Bauernschwank im italienischen Strafraum zum Besten gab und die Mimik spielen lies wie dereinst Karl Valentin. Es gab nur eine Schwalbe, die war auch ganz lustig, aber ausserhalb des Strafraums, und Müller hat sich ja auch am Ende mal ein wenig Erdanziehungskraft gegönnt, passt schon. Hat halt knapp nicht gereicht, Münzwurf hat ausnahmsweise für uns entschieden. Aber 17 Elfmeter, DAS war echt ne Ansage.
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