Mschl  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 03.06.2016 11:52 Uhr
Thema: John Lanchester - Kapital Antwort auf: Lesen und Spaß dabei. von Michael K.
Das Buch steht schon lange auf meiner Liste. Jetzt habe ich es mir endlich gekauft und bin sehr begeistert. Es ist ein britischer Gesellschaftsroman, der aus vielen (gewöhnlichen) Leben von (gewöhnlichen und ungewöhnlichen) Menschen erzählt, als da wären:

- Ein Banker, dessen Bonuszahlung ausbleibt, die eigentlich eingeplant und deshalb auch zwingend notwendig wäre.
- Eine ältere Dame, die im Sterben liegt.
- Ein 17jährigers Fußball-Wunderkind, das von Afrika nach London geholt wird.
- Ein Aktionskünstler, dessen größte künstlerische Errungenschaft ist, anonym zu sein.
- Ein Pole, der als sich durch Handwerksaufträge ein besseres Leben in Polen finanzieren möchte.
- u.v.m.

Gemeinsam ist, dass alle etwas mit der Pepys Road in London zu tun haben. Ein größerer Zusammenhang, ein richtiger gemeinsamer Plot bleibt(zumindest bis gut zur Hälfte des Buches) aus. Soweit, so langweilig. Und wer mit Gesellschaftsromanen in der Tradition von z.B. Jonathan Franzen nichts anfangen kann, wird mit dem Buch auch nicht glücklich werden.
Meines Erachtens schüren der Titel und die Inhaltsbeschreibung des Klappentexts auch völlig falsche Erwartungen: es geht nicht um die Finanzkrise und das Londoner Bankensystem. Es geht um Menschen mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen und unterschiedlichsten Hintergründen, die im London von 2007 ihr Leben verbringen.

Trotzdem, oder gerade vielleicht auch deshalb, finde ich das Buch großartig, denn was es für mich zum echten "Pageturner" macht, ist die sagenhafte Beobachtungsgabe von Lanchester und sein unglaubliches Talent, kleine (und große) zwischenmenschliche Begebenheiten, die eigentlich unbeschreiblich sind, in treffende Worte zu fassen.
Zudem werden die Geschichten der einzelnen Personen nicht jeweils an einem Stück erzählt, sondern Lanchester wechselt in kurzen Kapiteln immer wieder zwischen den einzelnen Handlungssträngen, wechselt auch manchmal die Perspektiven, aus denen die Geschichte erzählt wird und schafft es dabei immer, dass der rote Faden einer jeden einzelnen Geschichte immer präsent bleibt.

mschl
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