Felix Deutschland  (E-Mail nur eingeloggt Sichtbar) am 13.08.2014 00:06 Uhr
Thema: Lindenstraße Classics oder "100 Jahre Einsamkeit" Antwort auf: TVTV! Wetten, dass?! war einmal und Nonstop-TAHHM! von Sascha
Hollerö.

Auf meinem neuen absoluten Lieblingssender einsFestival werden seit geraumer Zeit (ich schätze mal mitte letzten jahres) um 18:00 Uhr Abends die alten, gaaaanz alten Folgen Lindenstraße wiederholt, noch mit Klausi Beimer als Kind, Manoel dem Ausländerjungen und Dr. Dressler, wo er noch laufen konnte und Helga noch mit ihrem "Hansemann" verheiratet war.

Diese Mischung aus Gelsenkirchener Barock, fürchterlich braunen Schrankwänden und fürchterlich rot-braun-beigen Küchen und fiesester 80er-Jahre-PopArt-Möbelhaus-Spanscheiße im Übermaß, gemischt mit Konflikten über Homos, Umweltschutz, AIDS, Rassismus etc.

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...ist gar nicht mal so übel! Natürlich ist der Look spuckreizerweckend. Freilich sind es auch die zärtlichen Liebesszenen zwischen schon damals nicht mehr sonderlich knackigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Aber die Schauspieler sind teilweise perfekt (!) nach Typ gecastet und absolut solide bis hervorragend in der Aufgabe, die sie zu erfüllen haben. Vor allem Marie-Louise Marjan spielt Mutter Beimer als Obelisken der bundesdeutschen Familienspießigkeit, und ihr Hospes passt ebenso perfekt in Zeit und Millieu: Während Frau daheim hinterm Herd steht, rackert sich der engagierte, aber überarbeitete Sozialarbeiter Hans Beimer auf der Maloche den Buckel krumm, hat aber immer ein offenes Ohr für die Haus-Mitbewohner, wenn sie mal "Probleme mit dem Amt" haben (Was auf kurz oder lang natürlich auf FremdLabskauserei und in Schande geborenen Babbies endet, aber so spielt das Leben).

Die Kinderdarsteller sind fast durch die Bank grausam und/oder unsymphatisch, gerade der junge Christian Kahrmann gewinnt gewiss keine Sympathiepreise (Hatte aber als Pseudo-Schlagzeuger der tatsächlich existierenden Kindermusikband "Minipigs" über 100.000 verkaufte Tonträger des akustischen Meisterweks "Die Kuh", welches über eine gewisse Zeit zum Standard-Musikstück bei Feierlichkeiten im Akropolis wurde), aber der Look hat auf seine künstliche Art ein Stück gelebte Realität konserviert, dass mir beim ersten gucken ein richtiggehender Schauder den Rücken herunterlief. Von den Automodellen über die NAchttischlampe bis zur Küchen-Eckbank ein Kabinett der Einrichtungs-Grausamkeiten, welches aber freilich Methode hatte. Macher Heinz (Hans?) W. Geißendörfer war sehr auf Authentizität bedacht, gleichzeitig lagen ihm aber gesellschaftliche Konfliktthemen derart am Herzen, dass er sie fast peinsam aufrichtig bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Show einwob.

Das misslingt tonal und inhaltlich so gut wie immer, ist aber in der Rückschau und war es damals schon: Nicht so wichtig. Allein das Ansinnen ehrt ihn; und das selbstbewusste zeigen gleichgeschlechtlicher Liebe zur Abendbrotzeit erforderte selbst damals Mut (Sogar beim zweiten On-Camera-Schwulenkuss zwei Jahre nach dem ersten bekamen die Darsteller Georg Uecker und MArtin Armknecht tonnenweise Morddrohungen), und im Gegensatz zu vielen anderen Sachen, die ähnliches versuchen, trägt in der Lindenstraße allein schon die Absicht die Serie auf ein höheres Level, als man ihr (gerade heute, wo sie inhaltlich so redundant und aus der Zeit gefallen wirkt wie es selbst die fast 30 Jahre alten Episoden von damals nicht tun) gemeinhin gerne attestiert, und ob absichtlich oder nicht wird um die Bekacktheit einiger Figuren kein Bogen gemacht. Das ist bei klassischen Fießlingen wie Else Kling oder Altnazi Onkel Franz natürlich nicht nötig, aber selbst die "Helden" der Sendung, die "guten" Figuren sind zum großteil nervig nölende Spackos, die öfter mal die Fresse halten sollten, ausser Gung.

Die Konflikte sind oft kleinkram, wie beispielsweise ein aus dem Hof geklautes Huhn oder ein Opa, der spielsüchtig wird, weil beim Griechen so ein düdelnder Geldspielautomat hängt, aber gerade weil so (für TV-Drama-Verhältnisse) Quatschprobleme ernst genommen werden, wirkt es fast schon rührend ehrlich und bodenständig. Bis dann wieder der nächste Depp auf der Lindenstraße (Die DRINGEND ein Tempo-30-Schild benötigt!) vom Auto umgenagelt wird oder AIDS bekommt oder aus dem Fenster kippt oder wasweißich. Ernsthaft, für Fußgänger ist die Lindenstraße ein Highway des Todes.

Also, natürlich wieder klassischer Fall von "Schlecht, aber eigentlich ganz gut, aber auch sehr schlecht", das nicht wegen des Nostalgie"bonus" gewinnt, sondern dem Nostalgie-Schock. Und sei es, wie sehr man merkt, wie die Leute damals (ohne es zu wissen!) das Internet brauchten, um nicht wahnsinnig zu werden: Wie viele Hausmuttis wurden aus dem Elend des zum fünften Mal hintereinander das Goldene Blatt durchlesens und dabei Likörchenabhängig werdens befreit, als es endlich Internet gab. So viele Kinder haben nicht aus langeweile wenn sie krank waren mit Onkel Franz Luftgewehrschießen geübt und dabei aus Versehem einen kleinkriminellen Pimp das Augenlicht weggeschossen, weil sie Videospiele hatten. Das weiß ja heute keiner mehr, wie das war. Es ist verlorenes Wissen.

Zur Zeit beginnt übrigens die Ära der Familie Zenker, das heißt, Til Schweiger ist in seiner Rolle zu bewundern, mit der ihm der Durchbruch in Hollywood gelang. Äääh, in Hollymünd. Wegen Köln-Bocklemünd. Da wird die Lindenstraße gedreht. Anyway, Til Schweiger. Ein Gott unter Menschen, der damals Klausi Beimer standing-mäßig nichtmal bis zur Sohlenkante reichte.
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